Warum es keine spezifisch deutsche Kultur gibt

Die Taktik der AfD war immer schon dieselbe: Mit menschenverachtenden Provokationen Aufmerksamkeit generieren, um in die Öffentlichkeit zu kommen. Wie zu erwarten war, empörte sich die Medienöffentlichkeit nach Alexander Gaulands Aussage, man müsse die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung in Anatolien entsorgen, über den Rassismus des Spitzenkandidaten, nicht ohne jedoch häufig im selben Satz zu sagen, dass der scheinbare Grund für Gaulands Entgleisung, Özuguz Aussage, es gäbe jenseits der Sprache keine spezifisch deutsche Kultur, vehement widersprochen werden müsste. Jedoch konnte kein*e einzige*r Kommentator*in bisher auch eine schlüssige Definition für die spezifisch deutsche Kultur liefern. Stattdessen begnügen sie sich damit, große Namen von Künstler*innen zu nennen, welche ihre Werke großteils in deutscher Sprache verfassten.
Als ausreichende Definition ist das freilich nicht geeignet, eine Definition müsste eindeutig bestimm- und abgrenzbar machen, was spezifisch deutsche Kultur ist und was nicht. Versucht man eine solche Definition zu finden, kommt man schnell zu dem Ergebnis, dass es sie nicht gibt. Bevor jetzt aber alle Wutbürger*innen vor ihren internetfähigen Geräten an die Decke gehen, bitte ich bis zu Ende zu lesen, dieses Fazit hängt nämlich stark mit der Definition eines emotional recht aufgeladenen Wortes zusammen, nämlich „deutsch“.
Der Begriff „spezifisch“ bedeutet laut Duden „für jemanden oder etwas besonders charakteristisch“ oder auch „eigentümlich“, „Kultur“ bedeutet in der weitesten Definition die „Gesamtheit der geistigen, künstlerischen, gestaltenden Leistungen einer Gemeinschaft“, der Einfachheit halber wird sich hier aber nur mit den bekanntesten Kulturschaffenden beschäftigt.
Das Adjektiv „deutsch“ aber kann hier einerseits für eine Sprache stehen, für einen Menschen, welcher von sich selbst oder anderen als deutsch definiert wird, oder aber die geographische Abgrenzung „aus Deutschland stammend“ bedeuten. Hier beginnt das ganze Problem, denn etwas spezifisch, also eigentümlich deutsches, müsste alle drei Kriterien erfüllen um wirklich widerspruchslos so bezeichnet werden zu können. Und selbst das ist nach AfD-Mentalität noch zu weit gefasst, immerhin will deren Spitzenkandidat eine deutschsprechende in Deutschland geborene Deutsche in Anatolien entsorgen.

Was ist des Deutschen Vaterland?

Die Absurdität des geographisch-politischen Kriteriums „aus Deutschland“ lässt sich wohl am einfachsten begreifen, vor 1871 ist es nämlich relativ schwer ein „Deutschland“ auf der Karte zu finden. Davor gab es Gebilde mit den Namen „Deutscher Bund“, oder aber „Heiliges Römisches Reich deutscher Nation“. Alle diese waren eines nicht: Ein deutscher Nationalstaat und alle wurden sie auch durch Kriege zwischen „Deutschen“ beendet.
Noch viel entscheidender ist aber wohl, dass diese Gebilde Gebiete umfassten, deren Einwohner*innen wohl eher mit Ablehnung reagieren würden, würde man sie der spezifisch deutschen Kultur zurechnen. Der deutsche Bund umfasste nämlich etwa das heutige Österreich, die FPÖ würde den Anschluss natürlich auch heute begrüßen, Tschechien, Ungarn, Luxemburg, Teile Polens, Italiens und Sloweniens. Das HRR war lange sogar noch umfassender, bis 1648 gehörten auch noch etwa die Schweiz und die Niederlande dazu. Zwischen 1806 und 1815, sowie 1866 und 1871 gab es gar Gebilde, den Rheinbund und den Norddeutschen Bund, die große Teile des heutigen Deutschlands gar nicht beinhalteten.
Und wenn man bedenkt, dass in Spanien die Habsburger auf dem Thron saßen und sich das britische Königshaus bis zum ersten Weltkrieg „Sachsen-Coburg-Gotha“ nannte, wird die Idee der spezifisch deutschen geographischen Abgrenzung endgültig torpediert. Gibt es also erst seit 1871 spezifisch deutsche Kultur? Oder will man heutige deutsche Grenzen in die Vergangenheit übertragen? Ist dann Kant nicht Teil der Deutschen Kultur, weil er im heutigen Russland schrieb? Hier könnte den Verteidiger*innen der deutschen Kultur nur noch die Reichsbürgerargumentation helfen, wobei ich danach die Grenzen von 1945 viel schlüssiger fände.

Du bist Deutschland!

Im Intro der ZDF Dokureihe „Die Deutschen“ heißt es: „Die Mitte Europas, […] Menschen, die sich erst im Laufe der Jahrhunderte als Deutsch verstehen“. Diesen Satz fand ich immer schon seltsam, denn in der Oberstufe in Sozialkunde haben wir mal ein Experiment in der Klasse gemacht, ob man sich selbst eher als Bayer*in, Deutsche*r oder irgendwie anders sieht. Fazit war: In erster Linie deutsch war in etwa so beliebt, wie eine kosmopolitische oder aber „Ich-kumm-as-Oberpfälzisches-Dorf“-Sichtweise, der allergrößte Teil der Klasse stellte sich klar in die bayrische Ecke. Als die AfD versuchte, mit Dirndln Wahlkampf im Sinne der Deutschen Kultur zu machen wurde sofort von erzürnten Bayer*innen darauf hingewiesen, dass ein Dirndl keinen Reißverschluss hat und nicht aus Plastik besteht. „Rechte Saupreißn“ hieß es da. Ist eine spezifische Kultur also nicht eher wesentlich regionaler als ein Nationalstaat?
Man sollte jetzt aber auch nicht auf die Idee kommen, eine spezifisch bayrische Kultur zu propagieren. Franken gehörte bis ins 19. Jahrhundert nicht zu Bayern, die Pfalz schon und auch als ich damals beim studieren von der Nordoberpfalz nach Niederbayern zog, gab es manche Verständigungsprobleme und Diskussionen darüber ob „kummt“ oder „kimmt“ bayrischer ist.
In der Vergangenheit, war diese Distinktionswut zwischen deutschen Regionen nur noch größer, willkürliche Grenzen von Fürstentümern verliefen zwischen Ortschaften, in welchen heute noch von Traditionalist*innen eine historische Feindschaft aufrechterhalten wird. Die bunten Uniformen des Kölner Karnevals sollten sich ursprünglich über das preußische Militärgehabe der Besatzungsmacht lustig machen. Die Einwohner*innen Elsass-Lothringens, von 1871 bis 1918 deutsches Staatsgebiet, identifizierten sich mehr mit Frankreich mussten aber unter deutscher Herrschaft leben, es gab also Kultur aus Deutschland, von Menschen die sich selbst als französisch ansahen.
Umgekehrt, gab es österreichische Kulturschaffende, die etwa 1848 eine großdeutsche Lösung bevorzugt hätten. Als Österreicher*innen könnte man sie einer österreichischen Kultur zurechnen, sie hätten sich aber wohl selbst gerne als Deutsche gesehen.
Nicht zuletzt muss man auch darauf eingehen, dass zur Identität neben der Eigen- auch die Fremdwahrnehmung zählt. Heinrich Heine hatte einst ein schönes Vaterland, war zu Zeiten vieler Einzelstaaten glühender Deutschnationalist, jedoch war er Jude. Die Nazis verbrannten seine Werke. Vielen unliebsamen Künstler*innen wurde im Dritten Reich die Staatsbürgerschaft entzogen, mussten ins Exil fliehen oder sahen sich der Verfolgung ausgesetzt, nicht alle kamen nach dem Krieg wieder nach Deutschland. Kurt Tucholsky starb im Exil, Stefan Zweig nahm sich das Leben, beide als Nicht-Deutsche. Hannah Arendt sah sich nie als Deutsche, da sie als Jüdin nie wirklich dazu gehörte. Mascha Kaléko kam nach Deutschland zurück, wo sie ein Land vorfand, in dem Altnazis nach wie vor hohe Positionen bekleideten. Sie wanderte nach Israel aus.
Dass man die meisten „deutschen“ Kulturschaffenden in der Geschichte nicht einfach so als „deutsch“ definieren kann, mag einige Wutbürger*innen, die die Doppelte Staatsangehörigkeit als eines der höchsten Übel ansehen, vielleicht zur Weißglut treiben, es ist aber wichtig zu verstehen, dass der Nationalstaat und Deutschland im Speziellen rein künstliche Gebilde sind, die wenig mit kultureller Abgrenzung zu tun haben, sondern vor allem mit politischen Machtspielchen der vergangenen zwei Jahrhunderte.

Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt

Kommen wir also zu dem, was Özuguz als die einzig spezifisch deutsche Kultur ansieht, die Sprache. Hier ist die Abgrenzung vermeintlich wesentlich einfacher, alles was in deutscher Sprache verfasst ist, ist deutsche Kultur. Doch auch hier kann man Einschränkungen festmachen. Gerade mittelalterliche Werke aus deutschen Landen wurde häufig in Latein verfasst, dass war nämlich einerseits die Sprache der Gelehrten und andererseits hätte man es sonst nicht im ganzen Kaiserreich verstanden. Die Dialekte waren so verschieden, dass sich etwa die verschiedenen Fürsten häufig nur in der Fremdsprache verständigen konnten.
„Aber Luther hat dann durch seine Bibelübersetzung den Deutschen eine einheitliche Sprache gegeben!“ Nein, Luther hat den Deutschen den sächsischen Dialekt als Hochsprache gegeben. Kein Scherz. Ausgaben der Luther Bibel hatten häufig angehängte Übersetzungshilfen: Flehen – Bitten, Qual – Pein, Täuschen – Trügen, das erste jeweils das lutherische, das zweite aus einer Liste einer Bibelversion, welche in Basel erschien. Heute sind uns beide Wörter geläufig, früher waren es unverständliche Vokabeln einer anderen Sprache. Vor allem der Buchdruck vereinheitlichte die Schriftsprache, da es schlicht ökonomischer war, einen Text zu publizieren, den alle verstehen.
Wenn deutsche Kultur in deutscher Sprache sein muss, dann wird damit auch sehr viel klassische Musik ausgeschlossen. Händels Oper „Julius Cäsar“ heißt im Original „Giulio Cesare“, Haydns Apotheker „Lo speziale“, und Mozarts „Die Hochzeit des Figaro“ „Le nozze de figaro“. Ist Italienisch Teil der spezifisch deutschen Kultur?
Wissenschaft ist heutzutage ein inter- und transnationales Geschäft. Viele deutsche Forscher*innen arbeiten in internationalen Teams oder schreiben zur besseren Verständlichkeit ihre Werke auf Englisch. Das ist auch keineswegs ein neuer Trend, die Lingua Franca wechselte nur von Griechisch, über Latein und Französisch, zu Englisch. Zählt also die Arbeit Deutscher Forscher*innen in Deutschland nicht zur spezifisch deutschen Kultur, weil sie auf Englisch verfasst wird? Was sagt Jens Spahn dazu?
Und wie steht es mit deutschsprachiger Kultur, welche von nicht-deutschen geschaffen wurde? Im Deutschunterricht war einer meiner Lieblingsautor*innen Friedrich Dürrenmatt. Will man als Deutscher wirklich so anmaßend sein, die Literatur des Staatsbürgers eines Landes, welches seit fast 400 Jahren gänzlich unabhängig ist, zu deutscher Kultur zu erklären? Sollte man „Die Physiker“ und den „Besuch der alten Dame“ aus dem Deutschunterricht verbannen, weil sie von einem Schweizer geschrieben wurden?

Das Land der Richter und Henker

Wir stellen also fest, dass es Kultur aus einem wie auch immer gearteten Gebiet Deutschland gibt, dass es Kultur gibt, die von Menschen stammt, die von sich selbst oder anderen als deutsch definiert werden und, dass es Kultur in deutscher Sprache gibt. Und vielleicht mag Mario Barth alle drei Kriterien erfüllen, eine überwältigende Anzahl an Kulturgütern jedoch scheitert an dieser Definitionstrias. Und wie anfangs schon erwähnt reicht für die Menschen, welche sich selbst als Gralshüter*innen der deutschen Kultur verstehen, selbst das deutschsprechende Deutschsein aus Deutschland nicht aus, um ausreichend deutsch zu sein. Leute die unreflektiert behaupten, es gäbe eine spezifische deutsche Kultur, müssen sich eingestehen, dass ein Großteil davon entweder gar nicht so spezifisch deutsch ist, oder aber, dass diese spezifisch deutsche Kultur kümmerlich klein und bedeutungslos ist, da so vieles ausgeschlossen wird.
Wir müssen verstehen, dass Kultur niemandem gehört, keinem Land, keiner Ethnie, keinen Gralswächter*innen der kulturellen Reinheit. Kultur gehört den Menschen und als solche können wir stolz sein, auf die spezifisch menschliche Kultur.

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2 Kommentare zu "Warum es keine spezifisch deutsche Kultur gibt"

  1. Maximilian sagt:

    Sehr treffend zusammen gefasst,Genosse!

    Diese Überheblichkeit zu denken nur, weil es Goethe gab, gibt es eine spezifische deutsche Kultur, nervt mich!

  2. Dr. Thomas Bäumler sagt:

    Dieser Blog spricht mir aus dem Herzen. Ich sehe es ganz genau so und halte den Begriff der deutschen Leitkultur für ein populistisches Konstrukt ohne belastbare historische oder kulturelle Grundlage.